- RegieCarl-Ludwig Rettinger
- Dauer122 Minuten
- GenreDokumentarfilm
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Filmkritik
Die Rote Kapelle war keine einheitliche Anti-Nazi-Organisation. Vielmehr fasste die Gestapo unter diesem Begriff mehrere Widerstandsgruppen aus unterschiedlichen weltanschaulichen Lagern zusammen, die sich im Zweiten Weltkrieg gegen das NS-Regime stellten, anfangs sogar ohne voneinander zu wissen. Die beiden wichtigsten Gruppen waren die Berliner Freundeskreise um den Offizier Harro Schulze-Boysen im Reichsluftfahrtministerium und den Oberregierungsrat im Reichswirtschaftsministerium, Arvid Harnack, sowie ein professionelles Spionagenetzwerk, das der militärische Nachrichtendienst der Sowjetunion von Paris und Brüssel aus errichtete.
Die Mitglieder fertigten und verbreiteten illegale Flugblätter, verhalfen Juden zur Flucht, dokumentierten Verbrechen der Nazi-Diktatur und funkten militärische Geheiminformationen nach Moskau.
Eine überfällige Revision
Auf der Basis jüngerer historischer Forschungsergebnisse unternimmt der Regisseur Carl-Ludwig Rettinger den Versuch, die Geschichte der Roten Kapelle filmisch neu zu schreiben. Dabei konnte er sich auch auf Veröffentlichungen stützen, die durch die Öffnung russischer Archive nach dem Ende der Sowjetunion 1990 zugänglich wurden.
Im Unterschied zur Münchner Widerstandsgruppe der „Weißen Rose“ um Sophie und Hans Scholl oder zur Gruppe um den Hitler-Attentäter Claus Schenk Graf von Stauffenberg wurden die Widerstandskämpfer der Roten Kapelle unter dem Eindruck des Kalten Krieges in der Bundesrepublik lange als Vaterlandsverräter und Handlanger des Kommunismus eingestuft. In der DDR wurden sie hingegen als antifaschistische Helden und „Kundschafter der Sowjetunion“ gefeiert.
Für diese Verzerrungen der historischen Fakten sind zwei mediale Darstellungen bezeichnend. 1971 realisierte Horst E. Brandt in der DDR auf 70 mm-Material den DEFA-Spielfilm „KLK ruft PTX – Die Rote Kapelle“, eine der größten Kinoproduktionen der DDR. Und in der Bundesrepublik realisierte Franz Peter Wirth die siebenteilige Fernsehserie „Die rote Kapelle“ (1972) als deutsch-französischer Co-Produktion. Während beim Ost-Film die Staatssicherheit die Darstellung der Ereignisse steuerte, beeinflussten bei der West-Serie ehemalige NS-Funktionäre die filmische Interpretation. Die Darstellung der Gestapo wirkte bei Wirth so geschönt, dass die Ausstrahlung im französischen Fernsehen nach Zuschauerprotesten abgebrochen wurde.
Seitdem gab es mehrere filmische Versuche, die Aktivitäten der Roten Kapelle neu zu beschreiben. 1989 inszenierte der französische Regisseur Jacques Rouffio „L’orchestre rouge“ mit Claude Brasseur nach einem Roman von Gilles Perrault. 2002 schilderte der deutsch-amerikanische Filmemacher Stefan Roloff in dem Dokumentarfilm „Rote Kapelle“ die Ereignisse mit Hilfe animierter Spielszenen aus der Sicht von Überlebenden, Familienangehörigen und Zeitzeugen. 2016 drehte Christian Weisenborn den Dokumentarfilm „Die guten Feinde. Mein Vater, die Rote Kapelle und ich“, der mit privatem Filmmaterial, Brief- und Tagebuchauszügen sowie Interviews mit Angehörigen und Autoren eine filmische Biografie komponiert.
Neuer Anlauf mit umfassendem Anspruch
Retting unternimmt nun einen ambitionierten neuen Anlauf mit umfassendem Anspruch. Zum Teil greift er erzählerische Elemente seiner Vorgänger auf, wenn er neue Interviews mit Angehörigen der Nazi-Gegner führt. Es war allerdings nicht einfach, „das Vertrauen der Nachfahren in Berlin, Paris, Tel Aviv und New York zu gewinnen“, betont Rettinger im Presseheft. Der Film bindet auch neue Erkenntnisse von Historikern wie Guillaume Bourgeois, Hans Coppi jr. oder Gerhard Sälter ein. Vor allem aber entwickelt Rettinger einen vielgestaltigen Filmhybrid, der aus Fotos, Wochenschau-Material, Interviews mit Hinterbliebenen und Historikern sowie Ausschnitten aus fiktionalen Filmen eine kaleidoskopische Chronik erschafft.
Um den Überblick zu erleichtern und die geschilderten Ereignisse in das historische Zeitraster einzufügen, führt ein Off-Erzähler durch den Film. Die stilsichere Verzahnung der Bild- und Tonquellen fällt dabei streckenweise so engmaschig aus, dass auf visueller Ebene die Grenzen zwischen dokumentarischem und fiktionalem Material verwischen. Die kompositorische Gestaltungsmethode erinnert an die hybride Ästhetik von Heinrich Breloer in Fernsehfilmen wie „Die Manns – Ein Jahrhundertroman“ (2001), die ebenfalls Spielszenen, Zeitzeugenberichten und Erinnerungen zu einem komplexen Porträt kombiniert, wirkt aber deutlich kleinteiliger.
Wie Breloer mit seiner Protagonistin Elisabeth Mann Borgese begleitet auch Rettinger einige Nachfahren an die Schauplätze der historischen Geschehnisse, etwa Rebecca Donner, die Großnichte von Mildred Harnack, der Frau von Arvid Harnack.
Großen Wert wird darauf gelegt, „blinde Flecken“ auszuleuchten. So arbeitet Rettinger heraus, dass „KLK ruft PTX – Die Rote Kapelle“ wie „Die rote Kapelle“ heikle Aspekte wie Folterungen und Hinrichtungen aussparten, die man dem jeweiligen Publikum nicht zumuten wollte, zu dem in Ost und West seinerzeit noch immer zahlreiche Täter und Mitläufer gehörten. Außerdem enthüllt Rettingers Film, wie die sowjetische Führung die Fehler und Arroganz des stalinistischen Geheimdienstes unter den Teppich zu kehren versuchte, indem sie zentrale Akteure wie den „Grand Chef“ des Spionagerings in Brüssel und Paris, den jüdischen Kommunisten Leopold Trepper, nach dem Zweiten Weltkrieg jahrelange im Gefängnis verschwinden ließ.
Rettinger hat den Film den 102 Widerstandskämpfern der Roten Kapelle gewidmet, die hingerichtet wurden, sich das Leben nahmen oder im KZ umkamen. Mit der Neubewertung der Netzwerke gibt der Film wertvolle Denkanstöße über den Stellenwert von Zivilcourage, Widerstand und Menschenrechten, gerade auch in einer Zeit, in der sich autoritäre und diktatorische Herrschaftsformen auf Kosten demokratischer Systeme wieder ausbreiten.