- RegieJulia Charakter
- ProduktionsländerDeutschland
- Produktionsjahr2024
- Dauer90 Minuten
- GenreDokumentarfilm
- AltersfreigabeFSK 12
Vorstellungen
Filmkritik
Der Missbrauchsskandal in der baden-württembergischen Brüdergemeinde Korntal hat in den deutschen Medien relativ wenig Aufmerksamkeit erfahren, weil er von den Auseinandersetzungen um ähnliche Verbrechen innerhalb der katholischen Kirche überlagert wurde. Daran wird auch der stille Dokumentarfilm „Die Kinder aus Korntal“ von Julia Charakter wenig ändern. Wohl aber an der Art, wie man auf die Vorgänge in der pietistischen Glaubensgemeinschaft und der von ihr verantworteten Kinder- und Jugendfürsorge schaut. Und auf die betroffenen Menschen, die nicht nur fürs Leben gezeichnet sind, sondern die bis heute darum kämpfen müssen, dass das ihnen widerfahrene Leid nicht bagatellisiert wird.
Ans Licht kamen die Vorgänge, als im Mai 2013 einer der Betroffenen an die Öffentlichkeit ging: Detlev Zander. Mit ihm beginnt auch der Film „Die Kinder aus Korntal“, in dem Zander an einem nasskalten Herbsttag in die heute knapp 20.000 Einwohner zählende Gemeinde südlich von Stuttgart fährt und sich wundert, dass er das alles überlebt hat. Damals als Waisenkind, als er der Gewalt sadistischer Erzieher ausgeliefert war, die „den Satan aus ihm herausprügeln“ wollten. Aber auch als Erwachsener, dem man nicht glauben wollte und der als Lügner und Nestbeschmutzer beschimpft wurde. Bis sich auch andere ehemalige Heimzöglinge zu Wort meldeten und von Schlägen, Erniedrigungen, Ausbeutung und sexueller Gewalt erzählten.
Wie Abschaum behandelt
Jetzt steht Zander wieder vor dem Hoffmannhaus, in dem er in der „Rotkehlchen“-Gruppe aufwuchs. Und erinnert sich an eine Kindheit als Waisenkind, in der er „nichts wert“ war und wie „Abschaum“ behandelt wurde, obwohl die Einrichtung der Brüdergemeinde doch der Nächstenliebe verpflichtet war. Neben Zander begegnet man auch anderen ehemaligen „Korntalern“, die von noch brutaleren Demütigungen, furchtbaren Strafen und entsetzlicher Gewalt berichten, oder hört einer Frau aus dem Off zu, die über ihre Albträume als kleines Kind spricht, wozu in beängstigenden Animationen wilde Hunde, Augenpaare und böse Männer über die Leinwand huschen sieht.
Nach außen hin wirkte die Einrichtung mit ihren vielen Gruppen und einem angeschlossenen Reiterhof vorbildlich oder entsprach jedenfalls dem Bild, das die Jugendämter sehen wollten. Doch von der ganz anders gelagerten Wirklichkeit zeugt eher der Satz, dass mehr Pferde aus dem Stall schauten, als Kinder im Freien spielten. Dass der Heimleiter mit der Gerte für Zucht und Ordnung sorgte, passt ins grausame Bild. Noch schwerer erträglich sind die Erzählungen von sexuellen Missbrauch oder Kindern, die sich aus Scham und Verzweiflung das Leben nahmen.
Raum für die Protagonisten
Das Entsetzen, das einem dabei in die Glieder fährt, resultiert nicht aus der zurückgenommenen Inszenierung, sondern aus der Ungeheuerlichkeit der Erinnerungen und dem Schmerz, der bis heute nachklingt. Manches bleibt dabei selbst für die Protagonisten immer noch ungreifbar, weil sie ihre mühsam errungene physische Stabilität nicht aufs Spiel setzen wollen. Die ruhige Inszenierung verzichtet auf alles Insistieren oder Dramatisieren, sondern entwirft mit ausgewählten Bildern des Ortes und seiner Umgebung eine konzentrierte Atmosphäre, die den Protagonisten den Raum gibt, sich nach ihrer Maßgabe der Kamera und dem Publikum anzuvertrauen.
Visuell und inszenatorisch resultiert der Fokus des Films aus der Kombination unaufgeregter Einstellungen, einer zurückgenommenen Tonspur und der klaren Ausrichtung auf die Opfer. Gleichwohl lässt die Regisseurin den Kontext der Brüdergemeinde mitsamt der von ihr in Auftrag gegebenen Untersuchung der Missbrauchsvorfälle nicht aus dem Blick. Die verantwortlichen Leiter der Brüdergemeinde kommen zu Wort, auch „normale“ Mitglieder der finanziell eigenständigen Freikirche sowie jene Juristin, die den 2018 veröffentlichten „Aufklärungsbericht“ verfasste, in dem die Aussagen von 105 ehemaligen Heimkindern ausgewertet wurden.
Daraus entsteht ein differenziertes, gleichwohl aber auch perspektiviertes Bild, das mehr vom Abwehrkampf der Brüdergemeinde als von einer echten Aufarbeitung zeugt. Deutlich wird auch das Versäumnis einer staatlichen oder zivilgesellschaftlichen Klärung der Missbrauchsskandale, in Korntal wie andernorts. Den betroffenen Menschen fällt es schwer, sich mit Schiedssprüchen von Gremien zu arrangieren, die von den Nachfolgern der Täter verantwortet werden. So brauchte es auch in Korntal weitere vier Jahre, bis nach dem „Aufklärungsbericht“ und der Zahlung von Entschädigungen die Brüdergemeinde 2022 endlich zu einem Schuldbekenntnis und einem öffentlichen Denkmal in Gestalt von drei Stelen in der Lage war.
Buße und Einkehr
„Die Kinder aus Korntal“ ist ein erschütternder, aufrüttelnder Film, der viele Fragen im Kontext der Kinder- und Jugendfürsorge aufwirft. Für den kirchlichen Bereich führt der Film exemplarisch auch die Schwierigkeiten vor Augen, die religiöse oder weltanschauliche Vereinigungen mit der Aufklärung von institutioneller Schuld haben. Einer Organisation wie der Brüdergemeinde in Korntal stünde es insbesondere an, ihre Frömmigkeit und Theologie mit den Verbrechen an den Kindern in Beziehung zu setzen. Statt das zum Himmel schreiende Unrecht zu vertuschen oder sich mit irgendwelchen Summen freizukaufen, wären dann wohl Buße und Einkehr angesagt.