- RegieMichel Seydoux, Laurent Charbonnier
- ProduktionsländerFrankreich
- Produktionsjahr2022
- Dauer80 Minuten
- GenreDokumentarfilm
- AltersfreigabeFSK 0
- Empfehlung der Jugendfilmjury6 - 99
- TMDb Rating7/10 (26) Stimmen
Vorstellungen
Filmkritik
Wie von Sinnen stürmt die Kamera auf einen Baum zu, krabbelt an den moosbedeckten Wurzeln entlang über die schrundige Rinde den mächtigen Stamm hoch, kriecht über Äste, taumelt im Laubwerk, steht auf dem Kopf, dreht sich in einer Kreisbewegung um die eigene Achse, Sonnenlicht strömt durch die Blätter. Das ist sie: die Eiche, 210-jährige Protagonistin des gleichnamigen Films, Lebensraum und Ökosystem für zahlreiche Arten. Präsentiert werden die „Mitbewohner“ des irgendwo in Frankreich stehenden Baums wie das Personal in einem Ensemblefilm. Da wären ein hoppelndes Eichhörnchen, ein Eichelbohrer, Waldmäuse, die im Souterrain des Baums ihr Quartier haben, Ameisen, Blaumeisen und Eichelhäher. Weiterhin all die Tiere, die in der Umgebung des Baums nach Nahrung oder Schutz suchen: Rehe und Wildschweine, Habicht und Buntspecht, Dachse, Füchse und Nattern.
Opfer sind keine zu beklagen
Laurent Charbonnier, der für seine spektakuläre Bildgestaltung von „Nomaden der Lüfte“ und „Unsere Ozeane“ berühmt ist, sowie Michel Seydoux haben mit „Die Eiche“ einen Naturfilm gemacht, der das Leben in und um die Eiche im Wechsel der Jahreszeiten und Wetterlagen weniger dokumentiert als nach den Regeln des Erzählkinos dramatisiert. Ein Gewitter zieht auf, der Himmel verdunkelt sich, Blätter fallen. Der Wind zerzaust das Gefieder der Vögel, ein Käfer droht vom Blatt eines Astes zu fallen und krallt sich mit größter Mühe fest, Mäuse fliehen in ihre unterirdischen Gänge, Ameisen wuseln umher. Schon ist man mittendrin in einem Katastrophenfilm, bangt um das Leben der Mäuse, die in ihrer vom Regenwasser gefluteten Behausung bibbernd auf einer erhöhten Ebene ausharren. Als sich der Sturm legt, krabbelt und kriecht all das Getier wieder aus seinen Löchern heraus. Opfer sind (wie überhaupt im ganzen Film) keine zu beklagen.
„Die Eiche“ ist anti-kontemplatives Kino. Alles ist Dynamik, ständig ist Action; irgendeine kleine Sensation, die mit Werden und Wachsen zu tun hat, passiert immer – eine dramatische Jagd unter Vögeln, ein Kampf um eine Eichel, ein Pilz, der wie ein Pfeil aus dem feuchten Boden schießt. Nur selten verharrt die Kamera einmal länger als zwei Sekunden auf der Natur. Und auch auf der auditiven Ebene ist einiges los an Geraschel, Geknacke, Gescharre, Gezirpe und Gezwitscher.
Die Natur wird munter anthropomorphisiert
Charbonnier und Seydoux haben keinen technischen Aufwand gescheut, um das Ökosystem der Eiche in imposante Bilder zu bannen. Sogar das unter der Eiche verborgene Leben eines Myzels wird in hochvergrößerten Close-ups im Zeitraffer beobachtet. Hier und da haben wohl Spezialist:innen für Computereffekte nachgeholfen; auch ein Tiertrainer war an der Entstehung des Films beteiligt.
Mit der Verschiebung anthropozentrischer Perspektiven hin zum „anders als Menschlichen“, wie es zuletzt Victor Kossakovsky in „Gunda“ oder Andrea Arnold in „Cow“ versucht haben, hat „Die Eiche“ trotz immersiver Effekte und einer Fülle an Point-of-View-Aufnahmen wenig zu tun. Vom „Planetary Turn“ scheinen die Filmemacher noch nichts mitbekommen zu haben. So wird das Paarungsritual zweier Eichelbohrer, begleitet von Dean Martins Mambo „Sway“, zu einer komödiantischen Tanznummer anthropomorphisiert – „Other dancers may be on the floor/Dear, but my eyes will see only you/Only you have that magic technique …“ Der Mensch ist im Film zumindest blickökonomisch noch ganz Herrscher über die Natur. Der Eiche kann das herzlich egal sein. Vermutlich wird sie das Kino überdauern.