Vorstellungen
Filmkritik
„Der Spatz im Kamin“ ist ein Film mit Menschen, Tieren und Monstern. Manchmal sind auch die Menschen Monster, und gelegentlich sagen sie das ihrem Gegenüber auch direkt – wenngleich im sanften Tonfall – ins Gesicht. Deutlich beängstigender als der einzelne Mensch sind in diesem abgründigen Reigen jedoch bestimmte Gefüge. Eine besonders gefährliche Art von Verbindung ist vor allem die Familie. Das andere Monster ist die Vergangenheit. Von den im Verborgenen lagernden Altlasten ist es wiederum nicht weit zum Geisterfilm und zum Horror und vielleicht auch zum Exorzismus. Schon der erste Satz des Films bewegt sich im ambivalenten Raum zwischen Harmlosigkeit und drohender Gefahr: „Sie kommen gleich.“
Ein Elternhaus ohne Eltern
Schauplatz ist ein idyllisch gelegenes Haus im Grünen. In den ersten Bildern brechen Sonnenstrahlen durch die Baumkronen. Das warme Licht sorgt für helle Farben und eher weiche Konturen auf Gegenständen und Gesichtern – ein Kontrapunkt zu all den harten und giftigen Dingen, die bei der Familienzusammenkunft auf der in strenge Bildkader zerlegten Bühne aufgeführt werden.
Das Haus, das Karen (Maren Eggert) mit ihrem Ehemann Markus (Andreas Döhler) und den beiden jüngeren Kindern (Lea Zoë Voss, Ilja Bultmann) bewohnt, ist ein Elternhaus ohne Eltern. Zumindest physisch sind sie nicht mehr anwesend. Aber was bedeutet das schon an einem Ort, an dem jeder Schritt an die eigene Kindheit erinnert, wo die eigenen Körperabmessungen sich noch immer an den Innenseiten der Schranktür finden und sich die Verstorbenen in Form von dunklen Möbeln und antiquiertem Lieblingsgeschirr ständig in Erinnerung rufen?
Karens Schwester Jule (Britta Hammelstein), die mit ihrer Familie anreist, kann jedenfalls nur schwer verstehen, wie die Ältere diesen Ort aushält. Der offensichtlich etwas mit ihr gemacht hat, sie verätzt, zementiert, verbiestert oder vielmehr vermonstert und von ihren Nächsten abgetrennt hat. Manchmal habe sie das Gefühl, so Karen, dass die Mutter ihr heimlich durch den Türspalt zuschaue und in sie hineinkrieche, bis sie selbst gar nicht mehr da sei.
Abschluss der Tier-Trilogie
Wie schon „Das merkwürdige Kätzchen“ (2013) und „Das Mädchen und die Spinne“ (2021) basiert auch „Der Spatz im Kamin“ auf der von den Zwillingsbrüdern Ramon und Silvan Zürcher entwickelten Grammatik und Syntax: ein spannungsvolles Zusammenspiel aus statischer Einstellung und knapper Aktion, Aussagesatz-Sprech und Ungesagtem, On- und Off-Geschehen, serieller Anordnung und Variation. Im neuen Film erscheinen die Abstraktionseffekte, der Eindruck des Abgestellten (von Sätzen, Dingen) und die Nähe zum Post-Dramatischen allerdings ein wenig abgeschliffen. Das Psychogramm interessiert nun nicht mehr vordergründig als Form, um Beziehungen zwischen Menschen, Dingen und dem Raum zu dynamisieren und unter Spannung zu setzen. Sie will nun auch tatsächlich befüllt werden: mit psychologisch nachvollziehbaren Motiven, einer erklärenden Geschichte voller Traumata, die in die Gegenwart wirken und irgendwann auch ausbuchstabiert werden wollen.
„Der Spatz im Kamin“, der weiter in der Arbeitsteilung des Debütfilms– Ramon Zürcher führt Regie, sein Bruder Silvan fungiert als Produzent – realisiert ist, bildet den Abschluss der „Tier-Trilogie“. Kätzchen, Spinne und nun der Spatz im Kamin; selbst die Metaphorik ist plakativer, wie überhaupt alles zugespitzter, direkter, mit breiterem Strich aufgetragen wirkt. Die Wunden, Schnitte und Scherben, die bereits ihre Spur durch „Das Mädchen und die Spinne“ zogen, setzen sich nicht nur verbal auf aggressivere Weise fort; auch physisch sind sie brutaler. Neben Nasenbluten, einer verbrühten Hand und Prügelmalen gibt es Tier-Splatter: ein flatterndes Huhn ohne Kopf, die Katze im Schleuderprogramm.
Ein Eichhörnchen sein
Das „Begehrenskarussell“, von dem die Brüder im Vorgängerfilm sprachen, läuft zwar (vor allem non-heteronormativ) weiter, formuliert sich nun aber vor allem als Abstoßungsmechanismus. Im Zentrum steht Karen, gemieden vom Ehemann, der bei der pyromanisch veranlagten Nachbarin ein warmes Nest sucht, aber auch von den eigenen Kindern gefürchtet und – mitunter auch offen ausgesprochen – gehasst wird. Die haben an ihren eigenen Beschädigungen zu tragen. Leon, der Jüngste, ist Mobbingopfer, außerdem koch- und kotzsüchtig, der Teenagerin Johanna, die mit sexuellen Anzüglichkeiten provoziert, droht durch eine Gelenksteife Bewegungsunfähigkeit.
Die Handlungs- oder auch Zerstörungsmacht liegt noch stärker als in den anderen Filmen ganz bei den Frauen; sie zahlen dafür aber auch einen deutlich höheren Preis. Die Männer haben nichts zu melden. Sie schleichen durchs Haus, stehen bedröppelt herum oder retten sich in eskapistische Fantasien: „Ich wär’ auch gerne ein Eichhörnchen.“
Das Dauerreiz-Reaktions-Karussell dreht sich schneller, der Druck muss entweichen und sucht sich seinen Weg nun ganz offen durch das Genrekino bis hin zum Body-Horror. Der Ausgang aus der surreal-albtraumhaften Passage ist jedoch schwer zu finden. Aber vielleicht soll in diesem Film ja nicht nur die dysfunktionale Familie in die Extreme getrieben und exorziert werden, sondern auch das auf Rahmung, Begrenzung und Einhegung spezialisierte Gestaltungskonzept gleich mit. Die nächsten Filme von Ramon und Silvan Zürcher werden es zeigen.