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Filmkritik
Behinderungen sind im Kino kein ungewöhnliches Thema. Meist stehen dabei Menschen mit einem Handicap im Mittelpunkt, die mit ihren Einschränkungen zurechtkommen müssen, oft in Konflikten mit „normalen“ Menschen. Der südkoreanische Regisseur Kim Jin-yu dreht in „Bori“ den Spieß um und erzählt aus der Perspektive eines nicht-behinderten Kindes, das in einer Familie mit Gehörlosen aufwächst und mit seiner Außenseiterrolle als gesunder Mensch hadert.
Sprachrohr einer stummen Welt
Die elfjährige Bori wohnt mit ihren Eltern und ihrem neunjährigen Bruder Jung Woo in einer kleinen Küstenstadt in Südkorea. Während Vater, Mutter und Bruder gehörlos sind und sich mit der Gebärdensprache verständigen, kann Bori hören. Für ihre harmonische Familie dient Bori quasi als Sprachrohr; sie übernimmt wichtige Aufgaben wie Essenbestellungen, Telefonate und Behördengänge.
Obwohl die Eltern sie genauso lieben und umsorgen wie den jüngeren Bruder, fühlt sich Bori in der Familie manchmal wie eine Fremde. „Warum kam ich als eine, die anders ist als meine Familie, auf die Welt?“, fragt sie sich immer wieder. Ihr wäre es lieber, auch gehörlos zu sein. Dafür betet sie sogar regelmäßig auf dem Schulweg in einem Schrein. Als Boris beste Freundin Eun Jung von diesem Wunsch erfährt, gibt sie ihr ihre Kopfhörer, damit Bori mit extrem lauter Musik ihr Trommelfell beschädigt – zum Glück ohne Erfolg.
Doch dann sieht Bori im Fernsehen einen Bericht über eine ältere Sporttaucherin, die durch die langen Aufenthalte unter Wasser ihr Gehör verloren hat. Bori ergreift die Initiative und hält ihren Kopf immer wieder ins Waschbecken – allerdings ebenfalls ohne Erfolg. Dann aber nutzt sie einen Ferienausflug ans Meer und stürzt sich in die Fluten. Als das Mädchen in der Klinik aufwacht, behauptet es, nicht mehr hören zu können. Damit steht Bori nun zwar auf der gleichen Ebene wie ihre Angehörigen, erkennt aber auch, wie oft und wie sehr diese wegen ihres physischen Andersseins im Alltag ausgegrenzt und diskriminiert werden.
Ein Hörender unter Gehörlosen
Kim Jin-yu kennt sich mit dem Thema Taubheit aus; er ist als Sohn einer Gehörlosen aufgewachsen. Diese Erfahrungen sind in sein Drehbuch eingeflossen, das sich durch genaue Beobachtungen der Lebensverhältnisse von Menschen auszeichnet, die nicht oder nur eingeschränkt hören können. So greift er immer wieder Missverständnisse und Probleme auf, die zwischen Behinderten und Nicht-Behinderten auftreten. Bori schreibt manchmal Botschaften auch lieber auf Zettel, weil sie die Gebärdensprache nicht ganz so sicher wie ihre Angehörigen beherrscht oder weil ihr das mitunter auch zu viel Mühe macht.
Der Regisseur kann sich auch souverän in die kindliche Erfahrungswelt einfühlen, wenn er die naiv-skurrilen Versuche des verstörten Mädchens schildert, selbst taub zu werden.
Die entspannte Inszenierung besticht durch eine gefühlvolle Beschreibung des Familienalltags, in der die liebevollen Eltern ihren Kindern ein tiefes Gefühl der Geborgenheit vermitteln. Dazu passt eine Kameraführung, die immer wieder die heitere Sommerstimmung in dem aufgeräumten Küstenstädtchen einfängt. Die Inszenierung punktet aber auch mit einer differenzierten Figurenentwicklung. So offenbart der jüngere Bruder eines Tages, dass er im Unterricht meist döse, weil die Lehrer keine Rücksicht auf ihn nehmen. Bori versteht plötzlich, dass er nur deshalb so fußballverrückt ist, weil seine Klassenkameraden lediglich im Sport mit ihm ernsthaft interagieren.
Plädoyer für Toleranz und familiäre Zuwendung
Die stärksten Szenen des Films gehören jedoch Bori und ihrem Vater, die beim Fischen am Meer lange Gespräche per Gebärdensprache führen. Dabei macht der Vater nicht nur deutlich, dass er sie als Taube genauso lieben würde wie als Hörende, sondern erzählt auch, dass er als Kind nur deshalb nicht schreiben lernte, weil er in der Schule so heftig drangsaliert wurde, dass er zuhause bleiben musste. Auch an anderen Stellen wirft „Bori“ präzise Schlaglichter auf vergangene und gegenwärtige Phänomene der Diskriminierung, ohne in plakative Anklagen zu verfallen.
Der Film ist ruhig erzählt, weist aber Längen auf. Insbesondere lange Einstellungen, in denen sich Bori fortwährend im Spiegel beobachtet, ohne dass sich eine Entwicklung abzeichnet, hemmen den Erzählfluss. Der wird auch nicht durch das eintönige Gitarrengeklimper gefördert, das unter vielen Szenen legt. Auch die Botschaften der überschaubaren Story, das Plädoyer für mehr Toleranz gegenüber dem Menschen mit Handicap und die filmische Hymne auf die bedingungslose Zuwendung der Familie, wirken etwas dick aufgetragen. Doch trotz seiner formalen Schwächen ist „Bori“ eine warmherzige Studie über gesellschaftliche Akzeptanz von Andersartigen, getragen nicht zuletzt durch solide Darstellerleistungen, unter denen Kim Ah-song als Bori und Kwak Jim-seok als Vater herausragen. Der Film ermutigt dazu, für eine inklusivere Welt einzutreten.