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Cast
Vorstellungen
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Filmkritik
14 Minuten und 21 Sekunden. Zwei Melodien, A und B, in 18 Variationen: das ist „Boléro“, ein Stück für Orchester mit Ballett, komponiert von Maurice Ravel im Auftrag der Choreografin und Tänzerin Ida Rubinstein. In Arbeit gegeben hat Rubinstein das Werk im Jahr 1927. Ravel arbeitete daran von Juli bis Oktober 1928. Die Uraufführung fand am 22. November 1928 in der Opéra Paris statt. „Boléro“ sorgte für Begeisterungsstürme, wurde zum Gassenhauer und ging um die Welt. Er wurde und wird geträllert, gepfiffen und in zahllosen Variationen gespielt.
Der gleichnamige Film von Anne Fontaine serviert im Vorspann eine bunte Collage aus Impressionen von Aufführungen aus aller Welt. Mal gibt es den „Boléro“ klassisch, mal poppig. Noch immer, heißt es am Ende des Films, werde das Stück alle 15 Minuten irgendwo auf der Welt gespielt. Musikgeschichtlich gilt der „Boléro“ als One Hit-Wonder; er ist das bekannteste Werk des Komponisten. Die Niederschrift einer Komposition, sagt der ebenso virtuos wie enigmatisch von Raphaël Personnaz gespielte Musiker, gehe bei ihm immer sehr schnell. Davor aber brauche er endlos Zeit, um sich zu verlieren und zu verzetteln und in dieser Verzettelung zur Inspiration zu finden.
Die Kunst des Verzettelns
Diese Zeit der Verzettelung, ein sich schlingernd und mäandernd anbahnender Entstehungsprozess, bildet den ersten Teil des Films. Die Erzählung folgt dabei lose Ravels Lebensweg. Er zeigt den Musiker 1927 in seinem Alltag in Paris. Bei gesellschaftlichen Anlässen, im Zusammensein mit Freundinnen und Freunden und zufälligen Treffen mit Bekannten, auch bei Bordellbesuchen. In den ersten Monaten von 1928 begibt sich Ravel auf eine Konzerttournee, die ihn durch die USA und Kanada führt. Innerhalb von vier Monaten tritt er in 25 Städten auf und kommt dabei auch mit der brodelnden US-Jazz-Szene in Kontakt, die ihn stark berührt.
Im Film erhält diese Tournee einen sich bildlich vom Rest absetzenden Road-Movie-Teil, in dem die Namen der Städte von unten nach oben über Bilder von endlosen Fahrten wandern. Ravel sitzt im Auto. Dann in einem Konzertsaal an einem Flügel. Das Publikum applaudiert, die Reise geht weiter. Zurück in Frankreich macht er sich zuhause oder in einem Haus am Meer an die Komposition des titelgebenden Musikstücks, das nach Vorgabe der Auftraggeberin spanisch inspiriert sein soll.
Zunächst liebäugelt er mit der Idee, einige Tänze aus Isaac Albéniz’ Klavierwerk „Ibéria“ für Orchester umzuschreiben, muss sein Vorhaben aber aus rechtlichen Gründen verwerfen. Er tobt, leidet, kommt nicht voran, zerreißt bereits Geschriebenes, findet schließlich aber in der vom rhythmischen Rattern und Knattern geschwängerten Geräuschkulisse einer Fabrik, in Melodien populärer Songs und in Alltagsgeräuschen wie dem Ticken eines Weckers oder Kirchenglocken schließlich doch die Inspiration zu seinem eigenwilligen Stück, dessen Intensität sich mit jeder repetierenden Variation steigert.
Interesse an Ravels Innenleben
In die filmische Gegenwart assoziativ eingeschoben sind Erinnerungen an Ravels Vergangenheit. Impressionen aus der Kindheit. Momente mit seiner Mutter, die ihm vieles über die Welt erzählt und mit der er auch im Erwachsenenalter noch zusammenwohnt. Einige Szenen zeigen ihn während seiner Studentenjahre am Konservatorium in Paris, wo er unter seinen Kommilitonen Freunde findet, beim Wettbewerb um den begehrten Prix de Rome aber mehrmals scheitert. Es gibt auch Rückblenden, die ihn während seines Einsatzes als Sanitätssoldat im Ersten Weltkrieg zeigen, aus dem er im Winter 1916 verfrüht nach Paris zurückkehrt. Wenige Monate später stirbt seine Mutter in seinen Armen.
Die Regie von Anne Fontaine fokussiert sowohl auf der Erinnerungsebene wie in der gegenwärtigen Erzählung allerdings weniger auf die Ereignisse, sondern interessiert sich für die dadurch ausgelösten Befindlichkeiten des Protagonisten und sein inneres Erleben. So sieht man Ravel während der Bekanntgabe der Resultate des Prix-de-Rome-Wettbewerbs verloren an einem Fenster im oberen Stockwerk des Konservatoriums. Und wenn der „Boléro“ nach etwa zwei Dritteln des Films endlich zu seiner Uraufführung kommt, zeigt Fontaine kurz einige Impressionen von Rubinsteins Tanzdarbietung und dem Orchester, folgt dann aber Ravel vor die Tür, wo er sich in einen Disput mit Misia Sert verstrickt, die ihm nachgegangen ist. Erst kurz vor Ende des Stücks kehren Ravel und Sert in den Konzertsaal zurück.
Das ist nicht unbedingt das, was man in einem Film erwartet, der sich um ein Musikstück dreht, das verhalten beginnt und sich in hypnotisierend repetitiver Variation ins furiose Crescendo steigert. Tatsächlich zeigt Fontaine den Komponisten bereits vor der Preisverleihung am Fenster des Konservatoriums, wobei Geräusche wie Vogelgezwitscher und Wind zu hören sind. Auf den Wind kommt Ravel in einer Szene kurz danach mit seiner Mutter zu sprechen. Die Tonspur von „Bolero“ ist, wie es sich für Film geziemt, der sich vertiefend mit Musik auseinandersetzt, sensationell präzise gestaltet und im Ton exquisit. Versucht man „Bolero“ in der Filmgeschichte vergleichend zu verorten, so erinnert eine zweimal zu sehende Szene, die Ravel mit Rubinstein in einer Fabrik voll lärmender Maschinen zeigt, unmittelbar an Lars von Triers ebenfalls stark auf die Geräuschkulisse fokussierendes Drama „Dancer in the Dark“.
Gesellschaft & Geselligkeit
Diese innere Verlorenheit, die sich am Fenster erstmals richtig zeigt, erfasst Ravel in „Bolero“ immer wieder. Sie wirkt befremdlich, funktioniert aber wie eine Ankündigung für eine nicht näher erklärte Demenzerkrankung, mit der Ravel in seinen letzten Jahren zu kämpfen hatte und ihn zunehmend von anderen absonderte. Ebenfalls befremdlich wirkt, wenn man nicht darauf vorbereitet ist, dass Ravel seine Muse und große Liebe Misia Sert nie berührt oder küsst und bei Bordellbesuchen nicht das sexuelle Abenteuer sucht, sondern Gesellschaft und Geselligkeit. Tatsächlich war Ravel nicht nur nie verheiratet, was im Film nicht explizit gesagt wird, sondern hielt sich auch mit Äußerungen über seine sexuelle Orientierung zeitlebens strikt bedeckt.
Nichtsdestotrotz oder vielleicht gerade deswegen stellt Fontaine dem Komponisten drei Frauen als engste Vertraute zur Seite, die ihn nach dem Tod seiner Mutter jahrelang begleiten. Neben Misia Sert sind das die mit Ravel seit Studientagen befreundete Pianistin Marguerite Long und seine Haushälterin Madame Revelot. Die drei Rollen sind mit Doria Tillier, Emmanuelle Devos und Sophie Guillemin glänzend besetzt. Anders als die von Jeanne Balibar als Exzentrikerin gespielte Rubinstein, die mitunter auch schmollt oder sich unnahbar gibt, begegnen diese drei Frauen Ravel über all die Jahre hin gleichermaßen mit Geduld und Sanftmut.
So streng wie exzentrisch
Hierin zeigt sich aber, was den Film, der in der Abhandlung dessen, was Ravels Boléro auszeichnet, höchst informativ ist und zu begeistern vermag, auf hohem Niveau dennoch scheitern lässt. Anne Fontaine hat die Rollen der Frauen und ihr Verhalten gegenüber Ravel klar definiert. Misia ist seine Muse. Marguerite seine musikalische Sparringpartnerin, die sich auch um sein Wohlergehen kümmert. Revolte führt seinen Haushalt und bringt ihm seine Schuhe. Diese Rollen und Funktionen verändern sich über all die Jahre hin nicht, obwohl der Film Ravels Leben von der Kindheit bis zum Tod abdeckt. Das aber beraubt Ravels Beziehungen ihrer Dynamik und verunmöglicht Veränderungen. Und es lässt Fontaines „Bolero“ so exakt getaktet und mechanisch konzipiert erscheinen wie Ravels eigenwilliges Orchesterstück. Was vielleicht tatsächlich die Absicht der Regisseurin war.