- RegieAstrid Menzel
- ProduktionsländerDeutschland
- Produktionsjahr2022
- Dauer91 Minuten
- GenreDokumentarfilm
- AltersfreigabeFSK 6
Vorstellungen
Filmkritik
Ernst Otto, genannt E.O., ein sehr betagter Herr, kommt nicht mehr gut die Treppe seines Einfamilienhauses hinauf und herunter und bewegt sich mit dem Rollator vorwärts. Er hat bereits etliche Operationen hinter sich und würde eine weitere nicht überleben, da sein Körper mittlerweile zu schwach ist. E.O., der Großvater der Regisseurin Astrid Menzel, ist jedoch im Kopf noch sehr klar und gibt der Enkelin etliche Ratschläge, unter anderem Heiratstipps. E.O. lebt in Norddeutschland und blickt auf ein langes, erfülltes Leben zurück. Ihm ist wichtig, dass sich die Enkelin nach seinem Tod um Carmen, seine Frau und Menzels Oma, kümmert.
In seinem 91. Lebensjahr stirbt der Großvater und lässt seine Frau allein in dem großen Haus zurück. Während die alte Dame, eine ehemalige Krankenschwester, körperlich fit ist und auch die meisten Aufgaben im Haushalt noch erledigen kann, hat ihr Geist jedoch gelitten. Sie ist nicht nur vergesslich, sondern leidet an Demenz. Als sich ihre Krankheit langsam herauskristallisierte, man sich aber noch normal mit ihr unterhalten konnte, stand auch sie der Enkelin Rede und Antwort. Materialistisch sei sie nie gewesen, Familie sei wichtig, und sie glaubt, dass Menschen nur in den Gedanken ihrer Angehörigen weiterlebten. Doch der Tod ihres Mannes hat einen weiteren Demenzschub bei ihr ausgelöst, und so wird sie von der Familie in ein Seniorenheim eingewiesen.
Eine womöglich letzte Kanufahrt
Da die Regisseurin – sie hat offenbar eine sehr enge Beziehung zu ihrer Großmutter – von Schuldgefühlen geplagt wird, beschließt sie, eine womöglich letzte Kanufahrt mit Carmen zu unternehmen. Als Kinder hatten Menzel und ihre Geschwister mit ihren Großeltern solch eine Tour bereits gemacht, und daran will sie anknüpfen. Gemeinsam mit der Oma sowie ihrem Bruder Hendric, der als zusätzlicher Paddler und Betreuer fungiert, macht sich Menzel auf eine mehrtägige Fahrt im grünen Kanu – von Bremen nach Kiel.
Astrid Menzel übernimmt in ihrem Film „Blauer Himmel Weiße Wolken“ mehrere Aufgaben. Zum einen ist sie Regisseurin und filmt chronologisch das Leben ihrer Großeltern und die Entwicklung ihrer Großmutter. Zum anderen ist sie aber auch Bezugsperson Carmens und kümmert sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten um das Wohlergehen der alten Frau. Dass diese trotz ihrer gravierenden Gedächtnislücken im Seniorenheim nicht glücklich ist, spürt die Enkelin. Zwischendurch ist Carmen auch so verwirrt, dass sie nachts ausbüchst – zu ihrem alten Haus in Eichkamp, von wo die Polizei sie wieder ins Heim bringen muss. Die Regisseurin fungiert auch als Erzählerin im Off, steuert dabei Infos bei, welche die Bilder nicht liefern, und gibt Auskunft über ihre eigenen Befindlichkeiten. Das verstärkt den persönlichen Charakter des Films, auch wenn Menzels Stimme und Diktion nicht mit denen von professionellen Sprechern mithalten können.
Außerdem verwendet sie andere Medien aus den Familienarchiven: Homevideos, Fotoalben oder Schwarz-weiß-Bilder der Großeltern in jüngeren Jahren. Der Film gewährt ebenfalls Einblicke in ein Haus, dessen Einrichtung auf Geschmack, soziale Stellung und Alter ihrer Bewohner schließen lässt. Die Großeltern hatten offenbar ein gutes Auskommen als Teil der bundesrepublikanischen Mittelschicht und lebten in einem geräumigen Haus in der norddeutschen Provinz. Teller mit Goldrand und Blümchenmuster verzieren eine Wand, bestickte Decken die Tische, und irgendwo hängt ein schönes altes Barometer. Jenseits der Familien- und Wohnverhältnisse vermittelt sich aber auch ein menschliches Dilemma: Wie steht es mit der Selbstbestimmung alter Menschen? Wer übernimmt ihre Pflege? Wie geht man im Besonderen mit demenzerkrankten Personen um, die einer besonderen Pflege durch Fachkräfte bedürfen?
An ihren Grenzen
Menzel treibt ganz offensichtlich ein schlechtes Gewissen um. Sie empfindet Carmens Leben in der Senioreneinrichtung als eine Art Abschiebung. Doch in der Realität ist es für Familienangehörige schwer, ihr eigenes Leben und die Pflege alter Familienangehöriger zu vereinbaren. Auf ihrer Paddelfahrt durch schöne norddeutsche Landschaften – sie machen den visuellen Reiz des Films aus – geben Menzel und ihr Bruder Hendric ihr Bestes, die 86-Jährige gleichzeitig zu bespaßen, zu beschützen und mit ihrer Krankheit umzugehen. Dabei stoßen sie jedoch an ihre Grenzen und entpuppt sich die Reise als mitunter mühevolles Unterfangen.
„Blauer Himmel Weiße Wolken“ ist kein Unterhaltungsfilm, in dem die Krankheit dramaturgisch aufgearbeitet oder gar beschönigt wird. Hier bekommen die beiden jungen Protagonisten es mit der zuweilen bitteren Realität zu tun, erweist sich die Oma als gesprächig, extrem vergesslich und zuweilen auch als bärbeißig und anstrengend. Das Dilemma der Enkel: Sie wollen ihrer Oma zu einem schönen Erlebnis außerhalb ihres eintönigen Heimalltags verhelfen. Doch dafür dürfen sie keine Dankbarkeit erwarten, im Gegenteil: Durch die Demenz kommen die wohl schon immer vorhandene Ungeduld und ein eher autoritäres Wesen der Oma zum Vorschein. Sie ist herrisch, möchte das letzte Wort haben und fährt die Enkel scheinbar ohne Grund an. Die Verwirrung der alten Dame wird aber auch durch den Bruch mit ihrem gewohnten Tagesrhythmus und durch ihre Frustration beeinflusst. Sie ist sich ihrer mentalen Unzulänglichkeiten bewusst, kann aber nichts dagegen tun.
Zwiespalt der Gefühle
So schwanken Menzel und ihr Bruder zwischen Fürsorge, gelegentlicher Überforderung und zwischendurch auch Verzweiflung, als die Großmutter den Trip plötzlich abbrechen will und sie nachts auf einer ihrer Stationen im Hotel nicht schlafen lässt. Auch die Zuschauer werden sich dabei ertappen, die Gedächtnislücken der Großmutter trotz aller Bemühungen um Verständnis zuweilen auch komisch zu finden. Den Zwiespalt der Gefühle und die Grenzen dessen, was für Angehörige machbar ist, arbeitet der Dokumentarfilm sehr anschaulich heraus und hat dabei trotzdem stets etwas Leichtes. Außerdem ist es ein sehr rührendes Werk über Familie, Solidarität und vor allem über die Liebe einer Enkelin zu ihrer Großmutter.