- RegieJames Erskine
- ProduktionsländerVereinigtes Königreich
- Dauer96 Minuten
- GenreDokumentarfilmMusik
- Cast
- AltersfreigabeFSK 12
- TMDb Rating6/10 (21) Stimmen
Vorstellungen
Filmkritik
So ganz ohne ein spekulatives Moment scheinen Filme über die Sängerin Billie Holiday nicht auszukommen. Gerade erst befeuerte „The United States vs. Billie Holiday“ von Lee Daniels den mit der Musikerin verbundenen Opfermythos. Jetzt folgt „Billie – Legende des Jazz“ von James Erskine, in dem man sich wie in eine Folge von „Aktenzeichen XY“ versetzt fühlt.
Am 6. Februar 1978 liegt eine Leiche auf einer Straße in Washington D.C. Eine Frau im Schlafanzug, mit Gesichtsmaske. Die Ermittlungen der Polizei gehen von Suizid aus; ein Abschiedsbrief wird nicht gefunden. Die Angehörigen der Toten sind skeptisch. Hat man es hier etwa mit einem ungeklärten Verbrechen zu tun? Ist man gar einem Mord auf der Spur? Und wie hängt das mit Billie Holiday zusammen, die zu diesem Zeitpunkt ja schon fast 20 Jahre tot war?
Ein unvollendetes Biografie-Projekt
Der Name der Leiche auf der Straße ist Linda Lipnack Kuehl, eine erfolgreiche Journalistin, die irgendwann beschloss, für eine Biografie zu Billie Holiday zu recherchieren. Daraus wurde ein Mammutprojekt, das sich über zehn Jahre hinzog und unvollendet blieb. Im Nachlass fanden sich Tonbänder, die Interviews mit Holidays Zeitgenossen, etwa Charles Mingus, Tony Bennett oder Count Basie, dokumentieren, sowie Kuehls Manuskript. Das ist das Ausgangsmaterial für „Billie – Legende des Jazz“, das – ergänzt um Film- und Fernsehauftritte Holidays, Interviews mit der Sängerin, Privatfilme, Fotos und anderes Archivmaterial – zu einer biografischen Erzählung montiert wird.
Zunächst fällt auf, dass Kuehl mit dem Anspruch auftritt, die „wahre Geschichte“ Holidays recherchiert zu haben. Sie will nicht verklären, sondern die Sängerin so zeigen, „wie sie ist“ (Kuehl). Was schwierig sein dürfte, wenn man gezwungenermaßen über Bande spielen und Zeitzeugen befragt muss. Außerdem ist Kuehl ein Fan, der Holidays Stimme als „realer und wahrhaftiger als alles, was ich bisher gehört hatte“ charakterisiert: „Sie erzählte von tief empfundenen Erfahrungen, heiser klagend aus einer Unterwelt.“
Hermeneutisch scheint das alles nicht ganz durchdacht zu sein, nimmt aber Fahrt auf, wenn die Tonbänder zu laufen beginnen. Auch wenn inhaltlich kaum etwas Neues zutage gefördert wird, entsteht daraus das eigentümliche Bild eines Milieus, das von Armut, Ausbeutung und Gewalt geprägt ist.
In den Südstaaten schwärzte sie ihr Gesicht
Die Fragen, die Kuehl stellt, mögen etwas seltsam erscheinen: „Hat Holiday als Kind viel geflucht?“ „Hat sie gekifft?“ Hat sie sich mit 13 prostituiert? War sie bisexuell? Die Antworten dagegen sind in ihrer Selbstverständlichkeit, mit der über Gewalt gesprochen wird, erstaunlich. Wie die unterschiedlichen Zeitzeugen auf Kuehls Fragen reagieren, wie sie sich in Szene und in Beziehung zu Holiday und ihrem zumeist toxischen Umfeld setzen, ist spannend. Einerseits erfährt man die bekannten Geschichten vom grassierenden Rassismus in den USA und der Segregation, was die Sängerin etwa zwang, ihr Gesicht nachzuschwärzen, um im Süden der USA auftreten zu können. Auf Tourneen durfte sie anders als ihre weißen Mitmusiker nicht im Hotel übernachten.
Gleichzeitig inszenierte sich Holiday als „Big Lady“ mit teuren Pelzen und Schmuck und provozierte mit ihrem Drogenkonsum, aber auch mit ihrem Protestsong „Strange Fruit“ über die Lynchmorde in den Südstaaten der USA. Es hat den Anschein, als hätten die Behörden an der flamboyanten Künstlerin ein Exempel statuieren wollen.
Was folgt, ist bekannt: Drogensucht, Gefängnisaufenthalte, Krankheit, aber auch künstlerische Erfolge bei guten Gagen. Für ihre eigenwillige Persönlichkeit kursieren viele Termini: Paranoia, Masochismus oder Psychopathologie, was vielleicht aber nur Effekte einer armen Kindheit in einer rassistisch-patriarchalen Gesellschaft sind.
Rassismus & Kunst
Tatsächlich scheint die Biografie Holidays ein Musterbeispiel für Intersektionalität zu sein, da sie als schwarze Künstlerin gleichzeitig aus unterschiedlichen Richtungen diskriminiert wurde – und genau daraus eine Kunst schuf, die von einer Kategorie wie Authentizität profitierte. Ihre Kollegin Carmen McRae sagt an einer Stelle mit Blick auf Kuehls Biografie-Projekt durchaus korrekt: „All dies hätte vor ihrem Tod passieren müssen, nicht erst danach, wo jeder seinen Mist ablädt.“
Zu diesem „Mist“ gehört auch die Frage, warum Kuehl eines Tages tot auf der Straße in Washington D.C. landete. Hatte sie etwa ein Verhältnis mit Count Basie? War sie bei ihrer Recherche jemandem auf die Füße getreten? Oder ist das Milieu, in dem sie recherchierte, immer noch genauso toxisch wie eh und je?
Was am Ende vielleicht am meisten in all den Interviews überrascht, ist der Gleichmut, mit dem unerträgliche Verhältnisse hingenommen werden, solange sie die Kunst nicht stören. Immerhin macht der Film auf der Zielgeraden unmissverständlich klar, dass das, was hier an Widersprüchen zusammengetragen wird, keineswegs eine Geschichtsstunde ist, sondern bis in die aktuelle Gegenwart reicht. Was in Zeiten von „Black Lives Matter“ keine allzu große Überraschung sein dürfte. So bleibt die Musik von Billie Holiday und der Preis, den sie dafür zu zahlen bereit gewesen ist.