- RegieGrit Lemke
- ProduktionsländerDeutschland
- Produktionsjahr2023
- Dauer92 Minuten
- GenreDokumentarfilm
- AltersfreigabeFSK 0
Vorstellungen
Filmkritik
Wer heute in Cottbus, der größten Stadt der Niederlausitz, spazieren geht, wird womöglich erstaunt sein, dass alle Straßennamen oder auch das Rathaus dort zweisprachig beschildert sind. Denn die Lausitz ist die Heimat der Sorben, des mit etwa 60.000 Menschen heute kleinsten slawischen Volkes. Vor etwa 1400 Jahren ließen sie sich in der Gegend zwischen Elbe und Oder nieder, bevor sie im 12. Jahrhundert von den Sachsen christianisiert wurden (auch Theodor Fontane hat dies in seinen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ beschrieben). In den folgenden Jahrhunderten wurden die Sorben immer mehr gen Osten getrieben und schließlich in den letzten 150 Jahren – vor allem im Deutschen Kaiserreich und verstärkt während des Nationalsozialismus – gnadenlos germanisiert.
„Bei uns heißt sie Hanka“ ist der erste dokumentarische Kinofilm über und mit Sorben, in dem Regisseurin Grit Lemke auch ihre eigene sorbische Identität erkundet. Denn dass sie sorbische Wurzeln hat, wusste die in Spremberg in der Niederlausitz geborene Lemke lange nicht. Obwohl die Sorben (die man früher Wenden nannte) in der DDR als ethnische Minderheit anerkannt waren, tat man auch dort nicht viel, um ihre eigenständige Kultur zu erhalten. Ihre Sprache war quasi ausgestorben. Lemke, die im Off als eine Art lyrisches Ich durch den Film führt, erinnert an ihre sorbische Großmutter, die nur noch einen Zahn hatte und ein eigenartiges Deutsch sprach. Umlaute kamen darin nicht vor, das „R“ wurde gerollt und alles doppelt negiert.
Alles war negativ konnotiert
Doch weil alles, was sie über Sorben erfuhr, negativ konnotiert war, stellte Lemke als Kind keinen Zusammenhang zwischen Sorben und ihrer eigenen Familie her. Sorben nahm sie von Weitem als in altmodischen Trachten tanzende Menschen wahr, die irgendwie irreal wirkten. Sprüche wie „Lauf nicht rum wie eine Wend’sche Hanka“ hörte sie in ihrer Jugend zuhauf. Sorben wurden mit Schmutz und Rückständigkeit assoziiert.
Ähnlich erging es auch vielen Protagonist:innen des Films, die eher zufällig von ihren Wurzeln erfuhren. Martin etwa ist Fan des Fußballclubs Energie Cottbus und war früher deutschnational – bis er auf einer Familienfeier von der sorbischen Identität seines Großvaters erfuhr. Seither hat sich seine politische Gesinnung radikal gewandelt. Von seinem mittlerweile sehr betagten Opa lässt er sich sorbische Lieder vorsingen, Geschichten erzählen, lernt die Sprache seiner Familie/Vorfahren und benutzt für seinen Vornamen mittlerweile die slawisch-sorbische Variante Měto. Selbst seine Fanplakate, die er mit ins Stadion nimmt, sind zweisprachig verfasst.
Viel Zeit verbringt der Film aber auch mit der Familie Wjesela auf dem Lande. Vor allem der junge Bauer Ignac, dessen Hochzeitsfeier im Film gezeigt wird, lebt seine sorbische Identität bewusst, ja fast offensiv aus. Mit seiner Familie und seiner Frau Anna spricht er nur Sorbisch und besteht auf sorbische Kultur und Traditionen. Bei ihm und seinem Vater führt die Identifikation mit ihrer Herkunft so weit, dass sie unsichtbare Mauern zwischen Sorben und Deutschen aufbauen, den einen diese und den anderen jene Eigenschaften zuordnen: Deutsche äßen stets mehlige Kartoffeln, Sorben die schönen festen und so weiter. Bei dem fordernden Auftreten von Ignac hat man den Eindruck, dass die Unterdrückung, die seinem Volk einst widerfuhr, bei ihm in einen sorbischen Nationalismus umschlägt, der genauso ratlos macht wie die frühere Scham vieler Sorbischstämmiger bezüglich ihrer Herkunft. Das wirkt ziemlich gewollt, zumal auch ein des Sorbischen nicht mächtiger Zuschauer Ignac’ deutschen Akzent – die Intonation und das nicht gerollte „R“ – beim Sorbischsprechen durchaus hören kann.
Nationales Empfinden kann vielschichtig sein
Dabei macht der Film doch auch klar, wie sehr Identitäten sich überlappen, dass nationales Empfinden vielschichtig sein kann und dass man in der Region ohne weiteres zwei Sprachen und Kulturen gleichzeitig oder nebeneinander pflegen kann. Bei ihren Ausführungen im Off blendet Lemke immer wieder die vielfältigen Landschaften der Lausitz ein. Während im industrialisierten Norden die ehemaligen Braunkohlereviere und rauchende Fabrikschornsteine dominieren, erblickt man in südlicheren Regionen malerische Dörfer mit kleinen katholischen Kirchen. Viele der Interviewten wechseln zwischen Deutsch und Sorbisch hin und her, die Bemühungen, die sorbische Sprache wiederzubeleben, werden als absolut unterstützenswert hervorgehoben. So blendet der Film neben den Gesprächspartnern oft ihren deutschen und ihren sorbischen Namen ein. Denn die ursprünglichen Namen der Bevölkerung fielen der Zwangsgermanisierung als Erstes zum Opfer: Aus dem sorbischen Familiennamen Pawliš wurde etwa das deutscher klingende Paulisch.
Die junge sorbische Künstlerin Hella Stoleckojc/Hella Stoletzki bezieht auch soziale Themen und Diversität in ihre Kunst und ihre Interpretation von Sorbischsein mit ein, wehrt sich gegen Exotisierung oder Klischees. Sie und ihre Freundinnen und Freunde rappen auf Sorbisch und feiern ihre Auftritte zweisprachig. Denn um zu überleben und um nicht auf Folklore reduziert zu werden, müsse sich eine Kultur auch ihrer Zeit anpassen.
Mit anrührender persönlicher Note
Lemke verzichtet in ihrem Film auf übergreifende historische Exkurse, eine genaue topographische Einordnung oder eine Erklärung darüber, wie sich Ober- und Niedersorbisch unterscheiden. Sie lässt sich von ihren eigenen sowie den Emotionen ihrer Protagonist:innen leiten, und das gibt ihrem Film eine anrührende persönliche Note. In Videoaufnahmen aus den 1990er-Jahren sieht man sorbische Dorfbewohnerinnen, die miteinander ihre Muttersprache sprechen und vor der Kamera auf Deutsch Auskunft darüber geben, wie viele im Dorf überhaupt noch Sorbisch sprechen. Auch Fotoalben erweisen sich als wertvolle Dokumente gelebter sorbischer Kultur. Dank ihnen ist es möglich, ganz spezifische Trachten wiederherzustellen – andere dagegen sind für immer verloren. Durch gewollte oder aufgezwungene Assimilierung kann man auch seine Muttersprache verlernen; wie Petra Richter/Richterojc feststellen musste. Sie musste sich Sorbisch als Erwachsene erst mühsam wieder aneignen, jetzt nennt sie die Regisseurin in ihren Ausführungen liebevoll bei deren sorbischem Diminutiv Gritka. Das Fazit des Films formuliert Grit Lemke/Grit Lemkowa schließlich selbst: Manche lernen eine Sprache, um das Fremde zu verstehen, manche, um sich selbst zu verstehen.