- RegieMarkus Stein
- ProduktionsländerDeutschland
- Produktionsjahr2024
- Dauer92 Minuten
- GenreDokumentarfilm
- AltersfreigabeFSK 16
- IMDb Rating7.3/10 (32) Stimmen
Vorstellungen
Filmkritik
Das nennt man wohl Timing! (Fast) gleichzeitig zur Nan-Goldin-Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie kommt mit „Baldiga - Entsichertes Herz“ von Markus Stein (Regie) und Ringo Rösner (Buch) ein Film in die Kinos, der gleich in mehrfacher Hinsicht mit Goldins Arbeiten kommuniziert und resoniert.
1979 beschoss das Essener Arbeiterkind Jürgen Baldiga, nach West-Berlin zu gehen. Mit dem erklärten Ziel, Künstler zu werden, wobei die Kunstform selbst noch nicht feststand. Baldiga tauchte in die queere Subkultur der Mauerstadt und deren inspirierende Atmosphäre aus Freiheit und Härte ein. Seinen Weg zur Kunst finanziert er durch Jobs als gelernter Koch und auch als Stricher am Bahnhof Zoo. Als Baldiga 1993 starb, hinterließ er eine Reihe dunkler Synthie-Tracks, 40 Tagebücher mit Notizen und tausende Fotografien, die ihn, seine Liebhaber und seine "chosen Family" so radikal realistisch dokumentieren, dass jederzeit mit Momenten durchaus inszenierter Authentizität gerechnet werden muss.
Memento mori für Baldiga und die Szene
Das ist auch das Material für ein Filmprojekt, das die bekannte Biografie von Baldiga polyphon rekonstruiert und dabei zugleich ein „Memento mori“ für die damalige Subkultur und eine ganze Stadtlandschaft zeichnet. Baldiga ist im kulturellen Gedächtnis durchaus präsent: Einzelne Fotografien – „Knallfotos“, wie sie Baldiga nannte – sind geradezu ikonisch; auch seine zumeist vergriffenen Fotobücher sind weit über die schwule Subkultur hinaus bekannt. Bereits 2019 widmete sich der Film „Rettet das Feuer!“ von Jasco Viefhues dem Künstler und Aktivisten; „Entsichertes Herz“ ergänzt und erweitert diesen Film.
Zur Dialektik der schwulen Subkultur West-Berlins gehören eine unerhörte Freiheit und der einsetzende Backlash durch AIDS. Als Baldiga 1984 mit dem „lustvollen Erwerb einer Immunschwäche“ konfrontiert wurde, dokumentiert er die widersprüchliche und retrospektiv erneut bestürzende Auseinandersetzung der Szene und ihrer Umwelt mit Krankheit und Tod, wobei auch Momente der rücksichtslosen Ausgelassenheit nicht ausgespart bleiben.
Als Kontrapunkt zur Schonungslosigkeit der Fotografien und der Selbstreflexion setzt „Entsichertes Herz“ auf ein paar Spielszenen und Talking Heads aus dem Umfeld des Schwulen Zentrums oder auf Baldigas Schwester, die davon berichtet, wie sie die Zeit erinnert, wenn er für ein paar Tage zu Besuch in der Heimat auftauchte und wie schwierig sich beide Milieus miteinander vermitteln ließen. Eine andere, durchaus verallgemeinerbare Anekdote handelt davon, wie Baldigas Eltern sich zu Besuch in West-Berlin ankündigten, er aber gerade kein Geld hatte, um die Wohnung entsprechend herzurichten. Sein zeitgleich veröffentlichtes Buch „Bambule“ (1989) ersparte ihm dann diesen Besuch.
Chronist und Aktivist
Einen ganz anderen Ton schlägt „Entsichertes Herz“ an, wenn es um die AIDS-Krise geht. Hier wird medizinisches Personal befragt, das auch noch nach Jahrzehnten betroffen und hilflos davon berichtet, wie man miterleben musste, nicht helfen zu können, sondern Beobachter des Schreckens zu bleiben. Dies ergänzt die horrende Binnenperspektive der schwulen Szene, die mit unterschiedlichsten Strategien durchaus widersprüchlich, verdrängend und (auch) unsolidarisch darauf reagierte und gleichzeitig erlebte, dass sie vom gesellschaftlichen Mainstream erneut marginalisiert und ausgegrenzt wurde. Auch, weil Unwissenheit, Fehlinformiertheit und Ignoranz im Umgang mit der Krankheit mit Händen zu greifen waren.
Baldiga hat all dies und auch seine eigene Hinfälligkeit mit großer Offenheit als Chronist und Aktivist begleitet und dokumentiert. Heute, aus der Perspektive der Corona-Pandemie, sieht man solches Material noch einmal mit anderen Augen. Und kommt auch zu anderen Schlussfolgerungen. Gegen die Tristesse des Massensterbens stellt „Entsichertes Herz“ eine Reise nach New York mit seinem letzten Geliebten, der vor der Kamera auch Rede und Antwort steht. Ein großer Traum, für dessen Erfüllung Baldiga auf Entzug ging und ein letztes Mal einen beglückenden Produktivitätsrausch erlebte, bevor er den Freitod wählte. Den sein Freund liebevoll und im Rückblick doch auch erfreulich nüchtern rekapituliert.
Mehr als eine Biografie
Ein bemerkenswerter, auch formal und in der Transparenz der gewählten Mittel äußerst reflektierter Film, der weit über die Rekonstruktion einer Biografie hinausgeht.