Vorstellungen
Filmkritik
Wie seine Vorgänger ist auch der neunte Spielfilm von Nuri Bilge Ceylan eine Erforschung der Innenwelt eines wenig sympathischen männlichen Protagonisten, hineinprojiziert in die weite, karge Landschaft der anatolischen Provinz. Ob verschneit oder sonnenbeschienen, bildet die Gegend in „Auf trockenen Gräsern“ eine „innere Wüste“, wie es am Ende des Films heißt. Man kann von einem „Hinterland der Seele“ sprechen, das Ceylans Figuren durchwandern, die wiederum an Figuren von Anton Tschechow erinnern, gefangen zwischen der Trägheit einer monotonen Existenz und dem unbestimmten Sehnsuchtsimpuls nach einem anderen, besseren, „sinnvolleren“ Leben.
Wie alle Filme des türkischen Regisseurs ist auch „Auf trockenen Gräsern“ ebenso lang wie dialogstark und damit Ausdruck einer literarischen Kunst, der die (männlichen) Protagonisten selbst anhängen, ohne in ihr zu reüssieren. Schon in „Winterschlaf“ (2014) trug sich die Hauptfigur mit dem Wunsch, eine Geschichte des türkischen Theaters zu schreiben. Und in „The Wild Pear Tree“ (2018) träumt der jüngere Protagonist davon, ein Memoir zu verfassen. Ceylans Sprache bringt den tiefsitzenden Zynismus, die Verzweiflung und die zutiefst unsympathische Arroganz von Männern zum Ausdruck, die scheitern und die nie wissen, warum sie tun, was sie tun (oder nicht tun, was sie nicht tun), denen die Existenz ein Geheimnis und die Anderen unerreichbar bleiben: geplagt von zu großen Träumen, gemartert von zu viel Kleinmut.
Voller Arroganz und Hochmut
In „Auf trockenen Gräsern“ ist der Protagonist ein Kunstlehrer namens Samet (Deniz Celiloğlu), der aus der Großstadt in die anatolische Provinz versetzt, ein ungeliebtes Dasein fristet und voller Arroganz und Hochmut auf jene herabblickt, die in seinen Augen das Leben von Hinterwäldler:innen führen. Und doch gehört er selbst ganz und gar zu dieser Landschaft, in die er nach den Ferien zu Anfang des Films zurückkehrt.
Nun ist die Landschaft unsichtbar, verborgen unter einer dicken Schneedecke. Die „trockenen Gräser“ des Titels erscheinen erst im Sommer (und am Ende des Films), der einzigen anderen Jahreszeit, die es in Samets Augen neben dem Winter in Anatolien gibt. Weshalb der Film nicht so sehr der Landschaft ähnelt, als vielmehr einem Weg ins Innere. Er zeigt, was Ceylans Kino seinem Wesen nach ist: ein Haus, in das der Filmemacher seine Figuren einlädt. Draußen ist es kalt, die Menschen ziehen sich in warme, gemütliche Innenräume zurück. Nicht nur in die Schule, sondern vor allem in Wohnungen, in denen die Kamera, auf einen Winkel des Wohnzimmers gerichtet, geduldig den langen Konversationen folgt. Von den Innenräumen aus geht die Reise entlang der Gespräche weiter nach innen, ins Reich des Intimen.
So wird die Landschaft selbst Bestandteil eines Innenlebens. Sie wird in den Fotografien, die Samet von ihr macht, „festgehalten“, als Ausdruck seines Blicks auf die Welt. Später wird eine andere Lehrerin, Nuray (Merve Dizdar), mit der sich Samet und sein Mitbewohner Kenan (Musab Ekici) anfreunden, in Kenans Gesicht die „Trauer“ der Gegend erkennen, „verborgen in der Tiefe der Seele.“ Und wenn die Kinder in Samets Klasse das Meer malen sollen, haben es die meisten im Außen nie gesehen; auch diese Bilder können nur solche der Vorstellung sein.
Unter Schnee und Eis
Die meteorologischen Bedingungen vermessen den Zustand der Seele: Alles ist vereist, aber vor allem auch verdeckt. Der Gang nach innen wird zur Suche nach diesem Verdeckten. Fragt sich nur, nach was. Die Antwort liegt vielleicht in Sevim (Ece Bağcı), einer Schülerin mit Lolita-Zügen, der Samet Geschenke macht, bis gegen den Lehrer Vorwürfe wegen unangemessenen Verhaltens und Missbrauchs seiner Autorität laut werden. Oder in Nuray, der anderen Frau des Films, die sich in der linken Bewegung engagiert. Die Gründe dafür, sich der einen oder anderen anzunähern, bleiben ungewiss. Ist es Zeitvertreib? Selbstherrlichkeit? Verletztheit? Oder Rache an Kenan, der sich in Nuray verliebt und in dem Samet bald den wahren Schuldigen hinter den gegen ihn erhobenen Anschuldigungen vermutet?
So nähert sich der Film dem Kern des Problems. Es handelt sich um die Bedeutung selbst, die ein Ereignis, ein Gefühl oder eine Person haben kann, und die eine Figur des Films einmal mit einem Feuerschein an der Decke vergleicht, einem schieren Reflex dessen, was im Inneren vor sich geht, „jenseits des Sichtbaren“. Nicht das, was geschieht, bedeutet bei Ceylan etwas (dafür geschieht zu wenig, wird zu viel gesprochen und sind die Filme zu lang), sondern nur das, was nicht geschieht. Die Bedeutung des Lebens ist nicht abwesend, sondern unsichtbar; die Figuren scheinen lediglich eine bedeutungslose Existenz zu führen, mit der sich aber niemand abfindet. Dies genügt, um die Filme des türkischen Autorenfilmers vor jenem Zynismus zu bewahren, in den sie ansonsten abdriften würden. Das Leben bedeutet in jedem Fall etwas. Aber niemand, auch nicht Nuri Bilge Ceylan, weiß, was genau.
In der zentralen, fast halbstündigen Szene des Films, einem Konversationsduell zwischen Nuray und Samet am Esstisch, ist es Nuray, die diese ambivalente Wahrheit vertritt. Samet glaubt an nichts und weigert sich, Position zu beziehen: „Bedeutung“ hat für ihn nur er selbst; sich über etwas anderes zu definieren, kommt für ihn nicht in Frage. Nuray hingegen glaubt an etwas, an sozialistische Ideale, die Revolution, den Feminismus, ein besseres Morgen. Sie sagt aber auch, dass man „nie weiß, wo man Bedeutsamkeit findet“. Die Bedeutung ist immer anderswo.
Aus der Schrägen in die Frontale
Es ist dieses Anderswo, das Samet unzugänglich bleibt: Steuert er es an, verlässt er nur, in einer kurzen brechtianischen Szene, die Kulissen des Films und durchquert das Set von Ceylans Film. Man mag diesen Moment als zu isoliert und aufgesetzt empfinden, da das Spiel zwischen Theater und Kino sich nicht weiter entfaltet. Letztlich verbleibt Ceylan selbst „innerhalb“ von Samets pessimistischer Vision (die nach dem Winter sprießenden Gräser lässt der Sommer sogleich vertrocknen), während es die Frauen sind, auf denen die Hoffnung von morgen liegt, ohne dass Ceylan ihnen nachgeht. Die tiefere Wahrheit des Films wird damit gegen den Film selbst gewonnen, gegen Samet, gegen Ceylan. Sie entsteht aus der schieren Differenz, der Verschiebung zwischen Samet und Nuray, so wie sich während ihres Gesprächs am Esstisch die Perspektive der Kamera auf einmal verschiebt und aus dem Schrägen ins Frontale wechselt.
Aber darum geht es hier: Um die Bedingungen für Veränderung, für die Entstehung von Bedeutung, dafür, das Leben anders zu leben (und zu filmen) als so, wie es bislang gelebt (gefilmt) wurde. Vor der konkreten Bedeutung ist der Glaube an die Bedeutung entscheidend. Nur dann können Bedeutsamkeiten überhaupt auftauchen, ohne schon wirklich da zu sein: im Winterschlaf, im Birnbaum – und selbst auf trockenen Gräsern.