Vorstellungen
Filmkritik
Dichte Wolken ziehen über den festungsartigen Gebäudekomplex einer Schule. Die Kamera schleicht durch den leeren Korridor, tastet die Wände ab, die mit gerahmten Klassenfotos vollgehängt sind. Sie wandert weiter in die Schultoilette, über gekachelte Wände und Waschbeckenreihen, zurück auf die Flure, den Wänden entlang, an denen die Spuren einer vielleicht schon verlorenen Kindheit abzulesen sind: Unschuld und Unheil.
Der norwegische Regisseur Halfdan Ullmann Tøndel zieht im Prolog seines Spielfilmdebüts „Armand“ so souverän wie kalkuliert die Register von Horrorfilm und Mystery-Thriller: Die Schule als potenzieller Tatort und „Haunted House“. Ein melancholisch-unheimelnder Song, mehr hingehaucht als gesungen und unterlegt mit tiefen, glockenartigen Klängen, lockt in die Erzählung. Das schrille Schulläuten mahnt, vermeintlich, zur Vernunft – und zum Wirklichkeitsprinzip des sozialrealistischen Kinos.
Eine „Sache“ wiegt schwer
Die junge Grundschullehrerin Sunna (Thea Lambrechts Vaulen) wird vom Direktor noch eilig instruiert. Nüchtern und sachlich solle sie vorgehen, die Sache nicht unnötig aufbauschen. Die „Sache“ wiegt schwer, ist aber alles andere als klar. Der sechsjährige Armand wird beschuldigt, seinen Klassenkameraden Jon in der Schultoilette bedrängt und sexuell missbraucht zu haben. Ein Gespräch zwischen den Eltern des mutmaßlichen Opfers und Elisabeth (Renate Reinsve), Armands Mutter, soll Klarheit schaffen, aber vor allem die lästige Sache vom Tisch fegen. Es ist der letzte Tag vor den Sommerferien.
Elisabeth ist Schauspielerin und nicht nur der Star des Elternabends, sondern auch des Films. Schon vor der verführerischen Eingangssequenz sah man sie in ihrem Auto kurz auf der Landstraße entlangfahren, ihre geschminkten Augen im Frontspiegel, große Strassklunker an den Ohren. Ihre Schritte auf dem Schulflur erzeugen schallenden Lärm; zu hochhackigen Schuhen trägt sie einen dunkelroten Lackledermantel, den sie im Klassenzimmer erst nach mehrfacher Aufforderung ablegt. Als das andere Elternpaar eintrifft – geradezu genussvoll und mit weiterem Absatzgeklapper dehnt der Film den Moment vor ihrem Aufeinandertreffen in die Länge – entfaltet sich ein dichtes, zwischen Ernsthaftigkeit und Groteske oszillierendes Kammerspiel.
Sunnas Appell, miteinander ins Gespräch zu kommen und niemanden vorzuverurteilen, erweist sich als naiv. In der Grauzone zwischen Doktorspiel und sexueller Gewalt bezichtigen die Anwesenden in Abwesenheit der betroffenen Kinder das jeweils andere Kind des Übergriffs und der Lüge. Mit zur Anklage stehen bald auch der legere, seit dem Tod ihres Mannes „haltlose“ Lebensstil der mit Jons Mutter Sarah verschwägerten Mutter. Als sich die Fronten verhärten, schalten sich der Direktor und seine Mitarbeiterin Ajsa ein. Ihre Versuche, das Gespräch in geordnete Bahnen zu lenken, scheitern dabei nicht nur an Ajsas unkontrollierbarem Nasenbluten, sondern auch an den hohlen Phrasen des Lehrkörpers. Die Situation eskaliert. Höhepunkt ist ein minutenlanger, nicht enden wollender Lachanfall von Elisabeth, der nach einem befreienden Auftakt in einen quälenden Zwang übergeht, bis er in ein fürchterliches Schluchzen mündet.
Aus der Spur
Mit dieser Entgleisung fällt auch der Film aus der Fassung. Auf dem Schulflur geht Elisabeths Gang in einen merkwürdigen Tanz über; mit ihren abgehackt eckigen Bewegungen wirkt sie wie eine an unsichtbaren Fäden gezogene Puppe. Später fällt sie einer Gruppe von Eltern buchstäblich in die Hände, die sie nach anfangs zärtlichen Berührungen immer heftiger und gewalttätiger umzingeln.
Das Abgleiten in die symbolische Sprache von Traum und Traumata sorgt jedoch nicht für eine Zersetzung der eigentlichen Erzählung. Tøndel schraubt die Ausgangssituation im Gegenteil zum psychologischen „Enthüllungsdrama“ hoch. Was zuvor latent anwesend war, wird zum Material für simplifizierende Erklärungen. Sarah gibt ihrer Schwägerin die Schuld am Tod ihres (wahrscheinlich gewalttätigen) Bruders. Ihr Mann Anders kann sein heimliches Begehren für Elisabeth nicht mehr verbergen. Und ist nicht vielleicht Sarah die eigentliche Täterin, die mit ihren Beschuldigungen ihre eigene Gewalttätigkeit vertuschen möchte?
Der Sarkasmus des Films gilt der Verlogenheit der bürgerlichen Welt: den Erwachsenen, die ihre Eitelkeiten, ihre gärende Eifersucht und ihre eigenen Verfehlungen über die Kinder ausagieren, und einer Schulleitung, die sich hilflos in bürokratische Floskeln flüchtet und an ernsthafter Auseinandersetzung nicht interessiert ist. Allerdings zeigt die Inszenierung daran ebenfalls kein wirkliches Interesse, was im Finale noch getoppt wird, wenn sich das Drama auf plumpe Weise im strömenden Regen auflöst. Unangenehm ist, mit welch hämischer Genugtuung Sarahs Zusammenbruch vorgeführt wird. Die Logik des Tribunals, die Halfdan Ullmann Tøndel kritisch vorzuführen vorgibt, hat er mit seinem Urteil selbst verinnerlicht.