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Filmkritik
„Amsel im Brombeerstrauch“ spielt in einem abgelegenen Dorf in Georgien und eröffnet mit dem nahen Blick auf das braun-grünlich sprudelnde Wasser eines Flusses. Das zweite Bild, ebenfalls aus der Nähe geschossen, zeigt einen Brombeerstrauch und blendet das Geräusch des Wassers aus. Der Strauch trägt Beeren, deren unterschiedliche Farben – Grün, Rot und dunkles Violett – die verschiedenen Stadien der Reife anzeigen. Eine Hand greift von rechts ins Bild. Sie pflückt eine Beere und noch eine, bis die Kamera schließlich schwenkt und den Blick auf das Gesicht der zur Hand gehörenden Person freigibt: eine Frau, nicht mehr jung, aber auch noch lange nicht alt. Sie trägt im Film den klingenden Namen Etero Gelbakhiani.
Etero hebt die Hand mit der Beere, hält aber inne, als das Zwitschern einer Amsel ertönt. Die dritte Einstellung zeigt die Amsel in einem nahen Strauch: schwarzes Gefieder, gelber Schnabel, gelbumrandete Augen. Der Schnitt zurück zeigt, wie Etero die Beere zum Mund führt und zugleich dem davonflatternden Vogel nachblickt. Jetzt zieht die Kamera auf und gibt den Blick frei auf das bewaldete Tal mit der tiefen Schlucht, durch die sich bedrohlich tosend der Fluss wälzt. Eine Unachtsamkeit bringt Etero ins Rutschen, den Hang hinunter dem reißenden Wasser entgegen. Sie könnte von Glück reden, dass es ihr gelingt, dem Rutschen Einhalt zu bieten und dass sie sich zurück auf festen Boden zu hieven vermag.
Keine, die von Glück redet
Doch Etero ist keine, die von Glück redet. Die Protagonistin des dritten Spielfilms von Elene Naveriani spricht grundsätzlich nicht viel. Sie ist 48, alleinstehend und betreibt im Dorf einen Haushaltwarenladen mit dem Namen „Nur für sie“. Ihre Kundschaft ist vorwiegend weiblich. Etero trägt vom Sturz einige Schrammen davon und begibt sich humpelnd auf den Rückweg ins Dorf. Auf der Brücke, die über die Schlucht führt, hält sie inne und schaut hinunter. Dabei wechselt unerwartet die Erzählperspektive, und die Zuschauenden sehen vorübergehend, was Etero sieht: ihren leblosen Körper am Ufer des Flusses, umgeben von Leuten aus dem Dorf, die sie auf den Rücken drehen. Es ist eine Vision oder Fantasie, eine Andeutung auch auf eine vorgestellte oder angedacht andere Version der erzählten Geschichte.
Solche Einschübe gibt es in „Amsel im Brombeerstrauch“ mehrfach. In einem sieht Etero spätnachts unverhofft ihren verstorbenen Vater und Bruder am Tisch in ihrem Wohnzimmer sitzen, ein anderes Mal erhascht sie beim Gang durch den Korridor eines Krankenhauses einen Blick auf ihre eigene, in einem Zimmer aufgebahrte Leiche.
Start in einen neuen Lebensabschnitt
Diese Inserts eröffnen den Blick auf eine zweite, für Etero offensichtlich aber durchaus gegenwärtige Welt. Sie spiegeln ihr inneres Erleben und verpassen „Amsel im Brombeerstrauch“ eine magisch aufgeladene Ebene. In einer Erklärung zu ihrem Film und dem als Vorlage dienenden Roman „Amsel, Amsel, Brombeerstrauch“ von Tamta Melaschwili schreibt Elene Naveriani, dass sie versucht habe, die Intimität des in Ich-Perspektive gehaltenen Romans im Film beizubehalten. Der am Filmanfang dargestellte Sturz und die Vision der Protagonistin werden dabei zur Initialzündung für den Start in einen neuen Lebensabschnitt.
Etero ist zurück in ihrem Laden und dabei, ihre Schrammen zu verarzten, als etwas früher als gewöhnlich ihr Lieferant Murman auftaucht. Er räumt die gebrachte Ware sorgfältig ins Regal, macht einige Bemerkungen zu einem neuen Produkt und der Lieferung. Etero nimmt derweil – das ist wörtlich zu verstehen – seine Witterung auf, schließlich fallen die beiden unverhofft übereinander her. „Ich hätte nicht gedacht, dass du mich auch magst“, sagt Murman danach. Ein Donnerschlag lässt Etero aufschrecken. Er solle niemandem etwas sagen, bittet sie Murman und schickt ihn hinaus in den strömenden Regen. Etero sperrt die Tür zu, greift in ihren Slip, schaut prüfend auf das Blut an ihren Fingern und murmelt: „Das war’s. Deine 48 Jahre Jungfräulichkeit!“ 14 Minuten sind in „Amsel im Brombeerstrauch“ bereits verstrichen, bis sich unterlegt von beschwingter Ballhausmusik der Titel einblendet.
Was ist das, die Liebe?
In der Folge erzählt Naveriani, wie sich die Geschichte von Etero und Murman weiterentwickelt. Sie zeigt einige Treffen der beiden. Im Auto, idyllisch auf einer Bergwiese, die so weit entfernt ist von ihrem Dorf, dass sie sicher niemand erkennt, später einmal auch in einem Hotel. Über Murman erfährt man nur wenig. Dass er verheiratet ist, zwei Enkelkinder hat, später die Stelle wechselt und als Fernfahrer in der Türkei unterwegs ist. Er spricht Etero gegenüber von Liebe, möchte mehr Verbindlichkeit. Etero möchte Sex, aber auch ihre Freiheit und Ruhe, und überhaupt, was ist das, die Liebe?
Vage nur deutet der Film an, was Etero dem Leben gegenüber bisher derart verschlossen machte. Der Krebstod ihrer Mutter kurz nach ihrer Geburt könnte einer der Gründe sein. Das Verhältnis zum Vater, von dem es heißt, er habe Etero nie geschlagen und sei nie laut geworden, habe sie insgeheim aber für den Tod seiner Gattin verantwortlich gemacht, ein anderer. Wie stark Etero unter der Fuchtel von Vater und Bruder gestanden haben mag, verrät die in einer geisterhaften Szene fallende Frage, ob Etero denn nun Hurerei betreibe.
Ähnlich wie in ihrem vorherigen Film „Wet Sand“ lässt Naveriani auch in „Amsel im Brombeerstrauch“ die Nachbarn – es sind fast ausschließlich Nachbarinnen – in der Funktion auftreten, die in alten griechischen Dramen dem Chor zukam: Klatsch und Tratsch zu verbreiten und dabei mitzuteilen, was in einer Gesellschaft Usus und Gebot ist – oder eben verboten. Etero meidet diese Kaffee-und-Kuchen-Runden meist. Ist sie einmal doch dabei, hört sie meist schweigend zu. Ab und an aber klinkt sie sich in eine Diskussion ein und gibt schlagfertig Replik. Etwa wenn süffisant vom fehlenden Glück der Unverheirateten die Rede ist. Eine einzige Frau aus dem Dorf steht Etero etwas näher, ihre Tochter schaut auf dem Smartphone jeweils Dinge nach, die Etero gerne wissen möchte, aber niemand anderen zu fragen getraut. Die Frau taucht überraschend denn auch an der Bushaltestelle auf, an der Etero – angeblich um eine entfernte Freundin zu besuchen – auf den Bus nach Tiflis wartet.
Lakonisch und verloren
Naveriani erzählt in ruhigen Bildern und in satten Farben. Die einzelnen Einstellungen sind oft lang, die Komposition gemahnt bisweilen an Gemälde. Für die Kamera verantwortlich zeichnet Agnesh Pakozdi, mit der Naveriani in allen ihren bisherigen Filmen zusammenarbeitete. In „Amsel im Brombeerstrauch“ klingt, wie schon in „Wet Sand“, eine lakonische Melancholie an, die an die Filme des Finnen Aki Kaurismäki erinnert. Ebenfalls zu beobachten ist in „Amsel im Brombeerstrauch“ eine Verlorenheit der Figuren, wie man sie aus den Bildern von Edward Hopper kennt.
Getragen wird „Amsel im Brombeerstrauch“ von der Hauptdarstellerin Eka Chavleishvili. Naveriani hat die von Statur kräftige und etwas mollige Schauspielerin bereits für „Wet Sand“ engagiert und sie noch vor Verfassen des neuen Drehbuchs für die Hauptrolle angefragt. Chavleishvili überzeugt im Spiel mit Präzision und starker Präsenz. Ihre Etero ist eine eigenständige und starke, zugleich aber auch überaus feinfühlige Frau, die – ohne dass sie selbst dies so formulieren würde – emanzipiert ihre Wege geht.