- RegieLilith Kugler
- ProduktionsländerDeutschland
- Produktionsjahr2024
- Dauer95 Minuten
- GenreDokumentarfilm
- AltersfreigabeFSK 12
Vorstellungen
Filmkritik
„Herzlich willkommen auf der Berliner Toilette“, grüßt eine blecherne Stimme zum Auftakt des Dokumentarfilms „Hausnummer Null“. Dort sitzt der Obdachlose Chris, der seit etwa sechs Jahren in Berlin auf der Straße lebt. Während er Heroin zum Inhalieren durch ein Aluröhrchen vorbereitet, fragt ihn die Regisseurin Lilith Kugler nach seinen Wünschen für ein anderes Leben. Laborleiter wäre er gern, sagt Chris, am liebsten mit den Arbeitszeiten des öffentlichen Dienstes. Dann müsste er nicht mehr schnorren, hätte ein gesünderes Gewicht, kein Hepatitis C und mehr Zähne im Mund. Chris und seine Eltern würden sich gegenseitig respektieren und gemeinsam über das lachen, was früher war. Von derlei gesellschaftlichen Konventionen ist Chris allerdings weit entfernt. Das tägliche Zusammenkratzen des Allernötigsten und der provisorische Schlafplatz in der Unterführung am Berliner S-Bahnhof Friedenau sind so ziemlich das Gegenteil seiner Wunschvorstellungen.
Über die Schulter schauen
Wie es dazu kam, dass Chris auf der Straße lebt, bleibt in dem Doku-Porträt unbeleuchtet. Nur einzelne Stichworte lassen knappe Hinweise darauf zu, dass seine Jugend schwer war und dann harte Drogen dazukamen. Die Filmemacherin Lilith Kugler leuchtet mit ihrem Debütfilm „Hausnummer Null“ nicht die Vergangenheit, sondern die gegenwärtige Situation von Chris. Mit ihrem teilnehmenden Dokumentarfilm schaut sie dem Protagonisten gewissermaßen über die Schulter und macht damit das Leben auf der Straße sicht- und greifbar. Man sieht Chris, wie er auf wackligen Beinen Kleingeld zählt oder den Schlafplatz fegt, wenn sich das Ordnungsamt zur Kontrolle angekündigt hat. Kugler verzichtet auf Erklärungen aus dem Off, auf Inserts oder „Talking Heads“, die über den Anstieg der Obdachlosigkeit in den letzten Jahren informieren oder Vorschläge zur Verbesserung des Missstandes unterbreiten würden.
Stattdessen ist „Hausnummer Null“ ein durch und durch gegenwärtiger Film, der einen der vielen Obdachlosen aus einer Großstadt porträtiert. Die Langzeitbeobachtung entstand zwischen 2020 und 2023, also inmitten der Corona-Zeit. Kugler und ihr Co-Kameramann Stephan Vogt setzen auf eine Mischung aus intimen Nahaufnahmen und respektvoller Distanz aus der Halbnähe.
Eine unaufgeregte Bestandsaufnahme
Dass Kugler nicht belehren, sondern schlicht zeigen will, ist ein angenehm altmodischer Ansatz. Die Regisseurin verzichtet auf naheliegende Emotionalisierungen oder einen erhobenen Zeigefinger und verdichtet ihre Beobachtungen zu einer unaufgeregten Bestandsaufnahme. Chris wird weder vorgeführt noch mit Samthandschuhen angefasst. Es obliegt dem Publikum, sich ein eigenes Bild zu machen und der Frage nachzugehen, warum der junge Mann durch das Raster der Hilfsangebote fällt. Als wesentlicher Grund für die Misere drängt sich derselbe auf, der im Zusammenhang mit Obdachlosigkeit häufig angeführt wird: Drogenabhängigkeit. Chris ist sich durchaus bewusst, dass das Heroin sein Leben bestimmt und dass das Leben auf der Straße seine Persönlichkeit verändert. Doch es ist schwer, die Sucht abzuschütteln.
Obdachlosen Menschen mit Respekt zu begegnen und sie nicht zu entmündigen, aber zugleich Hilfe anzubieten, ist ein schwieriger Spagat. Als Chris nach Jahren seine Mutter in Schwaben besucht, fragt diese sich, was sie anders hätte machen können. Die Ohnmacht der Angehörigen betrifft auch Alex, der ebenfalls obdachlos ist und immer dann wirklich besorgt erscheint, wenn sein Straßenkumpel Chris zwei oder drei Tage von der Bildfläche verschwindet. Auch Nachbarn, die Chris im Winter mit Tee versorgen oder ihn auf einen Weihnachtsmarkt mitnehmen, sorgen sich um ihn. Letztlich aber stehen die Mitmenschen hilflos daneben. Der Impuls und die Kraft zur Veränderung können nur von Chris allein ausgehen.
Ein Mensch und seine Geschichte
Doch im Verlauf der Dreharbeiten tut sich Hoffnung auf. Nachdem Chris fast tot in einer Notaufnahme landete, setzt ein Umdenken ein. Er nimmt an einem Substitutionsprogramm teil und hat ein Wohnheimzimmer in Aussicht. Der Weg aus der Obdachlosigkeit ist jedoch kein Selbstläufer. Chris ist oft viel zu fahrig, um Absprachen einzuhalten. Herausfordernd ist auch, dass der Wegfall der Drogenbeschaffung seinen bisherigen Lebensinhalt völlig verändert. Chris muss seinen Tagesablauf von Grund auf neu organisieren und weiß erstmal wenig mit sich anzufangen. Rückschläge bleiben da nicht aus. Ob der am Ende des Films geglückte Absprung vom Straßenleben von Dauer ist, kann man nur hoffen.
Mit ihrem beobachtenden Porträt verleiht Lilith Kugler dem Leben auf der Straße ein Gesicht. Das Einzelschicksal von Chris steht stellvertretend für ein gesellschaftliches Phänomen, dem nicht ohne Weiteres beizukommen ist. „Hausnummer Null“ trägt mehr zur Aufklärung über Obdachlosigkeit bei als politische Sonntagsreden oder andere Lippenbekenntnisse. Zudem erinnert der Film unaufdringlich daran, dass hinter jedem Schicksal eine Geschichte steckt und ein Mensch.